Dienstag, 30. April 2019

Was stimmt nicht mit mir?

Da sitze ich nun. Bei einer Party, zu der ich nicht wollte. Weil ich Feiern ohnehin nicht (mehr) viel abgewinnen kann. Vielleicht ist es meine angeborene Schüchternheit. Vielleicht mag ich auch einfach größere Ansammlungen von Menschen nicht. Oder vielleicht mag ich Menschen einfach nicht. Fakt ist: Ich kann Frauen nicht leiden. Oder Frauen können mich nicht leiden.

Nee. Quatsch. Leiden kann ich sie schon. Ich sage zwar gerne mal, dass ich Menschen hassen und lieber mal Urlaub in den Misanthropen machen würde, doch im Grunde kann ich Menschen sehr gut leiden und bin ein nettes Exemplar, also kann ich auch weibliche Menschen leiden. Ich kann nur nicht so gut mit ihnen. Oder sie können nicht so gut mit mir. Oder ich kann für einen Moment nicht so gut mit mir selbst. Hach. Es ist kompliziert.

Es ist nämlich so, dass mich der Umgang mit Frauen bzw. der Umgang mit den meisten von ihnen vor eine quälende Frage stellt:

Was stimmt nicht mit mir?


So lautet die Frage, die dann immer wieder in meinem Kopf auftaucht und ihre selbstzweiflerischen Runden dreht.

Bei solchen Feiern ordnet man(n) mich nämlich gerne den Frauentischen und Frauenrunden zu. Da sitze oder stehe ich dann und frage mich, was nicht mit mir stimmt. 99 Prozent der Gespräche zwischen den anderen Frauen und mir ersterben nach etwa zwei Minuten. In etwa so:

Gerade hat eine der anderen Frauen ein etwa fünfminütiges Referat über das Putzen gehalten und diverse ihrer Tätig- und Fertigkeiten dabei detailliert beschrieben. Enthalten waren dabei auch Produkttipps, auf die die anderen Frauen bereitwillig eingegangen sind und wiederum ihre Tipps zum Besten zu geben wussten. Was stimmt nicht mit mir? Ich putze auch. Sogar regelmäßig. Meine Wohnung ist echt in einem ziemlich okayen Zustand. Aber ich rede nicht darüber, wie dieser Zustand erlangt wird, schon gar nicht rede ich mit derartiger Expertise über Details des Putzens. Ich mache es halt einfach. Ich kann dazu echt nicht referieren, weder mit Abscheu noch mit Begeisterung. Ich habe keine Meinung zum Putzen. Was stimmt nicht mit mir?

Wenig später spricht eine andere Frau darüber, dass sie gegen halb sechs aufsteht, um sich für den Tag bereit zu machen. Das heißt für sie: Haare in Form bringen, Make-up auftragen, Kleidung auswählen. Vor allem ihre Haare würden zirka 45 Minuten Zeit beanspruchen. „Die liegen nicht von Natur aus so“, streicht sie sich durch ihre Kurzhaarfrisur. Ich denke – durchaus auch mit feinen Zügen der Wehmut – an meine Kurzhaarfrisuren (ich hatte sie ALLE). Etwa 45 Sekunden Zeit kosteten die mich täglich, manchmal auch nur einmal wöchentlich. Aber auch jetzt, wo meine meinen störrischen Charakterzügen sehr ähnlichen Haare die Kinnlinie passieren, passiert es mir nicht, dass ich wegen meiner Haare eher aufstehe. Die liegen von Natur aus so wie sie eben nicht liegen. Ich erzähle, dass ich morgens gerne früher aufstehe, um Yoga zu machen und ein bisschen zu meditieren. Schon als ich es ausgesprochen habe, fühle ich mich ein wenig freakig. Die anderen fragen, ob Yoga viele Kalorien verbrennt und ob es gut für die Figur ist. Ich muss ihnen gestehen, dass es mir nicht die Bohne darum geht. Was stimmt nicht mit mir?

Der kritische Punkt ist erreicht, an dem die nächste Frau in der Runde Wind davon bekommen hat, dass ich inzwischen aktives Mitglied einer Freiwilligen Feuerwehr bin. Also sie könnte das ja nicht, sagt sie. Und als ich noch so denke, dass sie sicherlich auf Rauch, Hitze, Blut und alles was bei Einsätzen noch so zu erblicken und zu erspüren sein könnte anspielt, haut sie mich mental um. Sie könne das ja nicht, nachts oder im Morgengrauen einfach so los. Ja, sage ich, nachts um zwei aufstehen zu müssen sei jetzt echt kein Spaß. Ich meine die Chronobiologie und dass man um solche Uhrzeiten nicht gerade auf der intellektuellen Höhe ist. Sie nicht. Sie fragt mich, wie ich es verkrafte, dass mich meine Kameraden dann so völlig ungeschminkt, unfrisiert und im Schlabberlook zu Gesicht bekommen. Darüber denke ich nicht nach. Was stimmt nicht mit mir? 

Mittwoch, 6. Februar 2019

Ziemlich beste Baustelle

Der Mann und ich haben jetzt eine gemeinsame Baustelle. Für mich ist das ein bisschen so wie meine Erklärung dafür, dass Menschen Kinder bekommen – es verbindet, einen gemeinsamen Feind zu haben.

Wobei. Es gibt so Momente… da stehe ich da und überlege, ob ich ihm nicht einfach eins mit der Schippe überbraten könnte und ihn dann verbuddeln, damit Ruhe ist und ich wieder mehr Freizeit und weniger Muskelkater habe. Dann fällt mir wieder ein und auf, wie viel Arbeit es macht einen Menschen zu verbuddeln, wie schwer meine Arme ohnehin schon von all der Schipperei sind, wie wenig Lust ich habe mich noch mehr anzustrengen … und ich verwerfe also mein mörderisches Potenzial wieder.

Es hindert mich aber nicht daran, ihn darauf hinzuweisen, dass ich gerade Lust verspüre, ihm mit der Schippe eins überzuziehen. Er findet das nur so semitoll. Offenheit in einer Beziehung wird scheinbar überbewertet.

Es ist rechnerisch so, dass ich seine bessere Hälfte bin. Anders ausgedrückt bringe ich die Hälfte seines Gewichts auf die Waage. Praktisch ausgedrückt bin ich also kein besonders fähiger Bauhelfer. Und auch mein Wissen ist äußerst dünn. Ich kann mit den wenigsten Begrifflichkeiten – Alligator, Phasenprüfer, UW-Profil, WTF – etwas anfangen. Und ich will es auch gar nicht.

Was ich will, ist meine neu gewonnenen Freundschaften pflegen. Ali und sein Angestellter von der Imbissbude gegenüber und ich sind ziemlich beste Freunde, was ich mit zwei vollen Döner-Bonuskarten an sechs Wochenenden belegen kann.

Ali wies mich am dritten Wochenende darauf hin, dass ich auch vorher anrufen könne und dann nicht so lange auf meine Bestellungen warten müsste. Ich erklärte ihm, dass ich nicht immer aussehe wie die Dust Lady, die den 11. September überlebte, sondern einfach nur eine Baustelle habe und auf dieser frei habe, solange ich Essen hole. „Aaaaaah“, machte Ali, zwinkerte wissend und fragt nun immer, wie viel Pause ich möchte, bevor er anfängt, die Rotkrautstreifen einzeln in das Fladenbrot zu dekorieren. Eine Baustelle verbindet eben.

Montag, 16. Juli 2018

Nett mit Beigeschmack

Ein sonniger Tag, weiße Schleierwolken ziehen feine Bahnen in den blauen Himmel, die Vögel zwitschern, der Wind rauscht leise durch die grünen Blätter. Man muss einfach gute Laune haben an so einem Tag, geht eigentlich nicht anders. Noch dazu habe ich frei und alle Zeit dieser wunderschönen Welt für einen langen Spaziergang durch genau die Wiesen meiner Stadt, die mich immer ein bisschen an mein gelobtes Land Brandenburg erinnern. Schön. Einfach schön.

Ich strebe mit großen und meinen üblich schnellen Schritten auf dem schmalen Weg vorwärts. Die Steine piksen sich durch die dünnen Schuhsohlen. Es macht mir nichts, zu beglückt bin ich von diesem Sonnentag. Vor mir taucht eine Frau mit durch und durch langem Kleid und Kopftuch auf. Sie schiebt einen Kinderwagen. Zwei kleine Jungs stapfen vorne weg, ihrem noch etwa 50 bis 75 Meter entfernten Vater (vermute ich) auf den Fersen. 

Der Mann dreht sich immer wieder nach den Jungs um, dabei erblickt er mich und sagt auf Arabisch etwas zu der Frau. Sie dreht sich um, hebt entschuldigend die Hand und bugsiert den Kinderwagen ins Gras, um mir und meinem Galopp Platz zu machen. Ich winke noch ab und will ihr bedeuten, dass sie das nicht tun muss. Warum auch sollte der mit Kinderwagen ins unwegsame Gras ausweichen? Sie tut es dennoch. Ich verlangsame meinen Schritt, lächle sie an, blicke kurz auf das höchstens drei Monate alte Baby und sage "Danke". Ich hoffe, das Kleine ist nicht wach geworden durch den holprigen Weg ins Gras.

Als ich langsam weitergehe, um mich an den Jungs vorbeizuschlängeln, sagt der Vater auch zu ihnen etwas. Ich verstehe wieder kein Wort. Aber es klingt genau wie bei der Frau irgendwie nach einem Befehl, Platz zu machen. Der etwa Fünfjährige trollt sich gleich, der Kleine von höchstens zweieinhalb Jahren interessiert sich nicht für die Worte.  Er hat wichtigere Dinge zu tun. Dinge, die Kinder seines Alters eben so zu tun haben und als das Wichtigste auf der Welt erachten. Gut so.

Er hat einen Kornapfel in der Hand. Und den zeigt er mir als ich gerade vorbei will. Ich lächle ihn an und frage, was er denn da hat. Er beginnt zu erzählen. Ich verstehe kein Wort von dem Gesagten, weil das bei höchstens Zweieinhalbjährigen immer so ist - egal welche Muttersprache sie haben. Er brabbelt munter drauf los, dass sich die kleine Zunge vor Aufgeregtheit überschlägt und ich verstehe kein Wort. Wie bei jedem Kind dieses Alters tue ich aber schwer begeistert, verständnisvoll und interessiert, obwohl ich kein Wort verstehe. Der höchstens Zweieinhalbjährige stoppt seinen Redefluss. Gut, denke ich, das war dann also alles zum Thema Apfel. Ich winke dem Kleinen und will wieder schneller gehen.

Er aber greift mit seiner kleinen Hand meine und krabbelt seine Fingerchen in meine Handfläche, geht mit mir im Schneckentempo höchstens Zweieinhalbjähriger den Weg weiter. Dabei hält er mir den Apfel hoch und gibt ihn mir in die andere Hand. Wieder erzählt er. Wieder tue ich so als wäre ich voll Verständnis, wiege den Apfel hin und her. Er redet und redet. Er deutet auf den Apfel. Ich beuge mich zu ihm herunter, gebe den Apfel zurück und reiche ihm meine Hand zum Handschlag, sage "Tschüss, kleiner Mann" und winke.

Der Vater ist stehen geblieben, hat alles beobachtet. Auch er reicht mir die Hand, schüttelt sie und sagt in gebrochenem Deutsch: "Vielen Dank, das war sehr nett von Ihnen, so freundlich ist hier sonst kaum jemand zu uns, ich wünsche Ihnen alles Gute!"

Montag, 2. April 2018

Hipsterpärchenabendalarm

Schön. Urlaubstag. Ein italienisches Restaurant, das so gut ist, dass wir das zweite Mal in vier Tagen dort sind. Durch das Fenster kann man die See sehen. Die Sonne geht unter. Die Musik spielt sanft im Hintergrund. Öffnet sich die Küchentür duftet es stoßweise nach frischem Ciabatta. Der Büffelmozzarella zergeht auf der Zunge. Die Nudeln werden frisch gemacht. Die Karte bietet zu sehr fairen Preisen so viele Leckerbissen ... man würde sich am liebsten einmal durchfressen. Und die Kellner sind auf unaufdringliche Art freundlich wie die Sonne Italiens. Hach. Schön. 

Dann kommen sie. Hipster. Vier Stück. Portioniert in Pärchen. Sie parken ein besterntes Auto im Halteverbot und betreten das Restaurant. Drei von ihnen halten Smartphones in den Händen und den Kopf gesenkt, der vierte wenigstens den Schlüssel zum Auto. Sofort denke ich an irgendeinen Vater, der das alles bezahlt. Meine Synapsen feuern fröhlich eine Salve Vorurteile. Der weibliche und der männliche Hipster an sich in Reinform ... scheint mir.

Die Ers tragen diese Label-Mützen aus Strick auf dem Kopf und Basketballschuhe an den Füßen. Die kann man bestimmt schon im used look kaufen? Ich glaube nicht, dass die sie selbst so abgelatscht haben. Die Sies tragen entweder diese Stiefelletten mit dem Stoffeinsatz oder Sneaker - die Knöchel jeweils frei. Draußen sind kaum über null Grad und vom Meer kommt eisiger Wind. Ich komme nicht umhin mich zu fragen, wie die das eigentlich machen? 

Leidet der männliche Hipster nie an kalten Füßen oder trägt er vielleicht sehr dicke Socken drunter? Vielleicht diese ultrawarmen und wirklich sehr empfehlenswerten von der Bundeswehr? Hat der Hipster je Kontakt zum Bund gehabt? Ist der weibliche Hipster sehr abgehärtet oder trägt er vielleicht Thermosohlen? Oder hilft die fette Wolldecke, die er neuerdings um den Hals trägt? Oder der zu groß geratene Strickpulli?

Und dieser übliche Esmusssoscheißeungeplantaussehenundkostetechtvielmüheundarbeitsoverwuscheltzuwirken-Dutt auf dem Kopf? Dafür gibt es bestimmt Tutorials bei Youtube, die dem weiblichen Hipster beibringen, erst einen ballerinamäßigen Knoten zu binden und sich dann auf der Krone des Kopfes voran über einen mindestens drei Meter langen harten Teppich zu schieben? Oder ist das Ding schon so lange auf dem Kopf, dass mit den ersten Frühlingstagen Tschilpen von dort zu hören sein wird?

Sie nehmen nicht viel Platz weg im mit lauter normalen Menschen gefüllten Restaurant. Alle vier sind auf diese schlacksige Art dünn, die einem verrät, dass die Muskeln seit dem Schulsport gänzlich ungenutzt geblieben sind und körperliche Arbeit jetzt nicht so ihr Ding ist. Ich denke wieder an die Eltern, die das alles bezahlen. 

Erst einmal wird die Karte studiert und sich lautstark aufgeregt, dass eine bestimmte Marke Wasser nicht auf dieser zu finden ist. Ich habe irgendwo mal gelesen, dass diese Marke zu der Art Wasser-Mafia gehört, die Menschen in Afrika das Wasser nimmt. Die Weinkarte fällt nach einiger Diskussion nicht so durch. Man bestellt was Rotes, kann den Namen, welchen ich schon wieder vergessen habe, natürlich schwunghaft italienisch aussprechen und sich anschließend in Fachsimpeleien verlieren, für die ich auch einem Sommelier Posing vorwerfen und ihm Prügel androhen würde.

Als Vorspeise kommt Salat. Dieser wird erst umdekoriert und dann fotografiert. Der weibliche Hipster scheint nach der Hälfte schon satt, wirkt aber insgesamt eher unfroh. Der männliche Hipster bekommt noch eine Pizza, welche allerdings nicht fotografiert wird, aber neidvoll vom weiblichen Hipster beäugt wird, bevor er beginnt, sich immer wieder kleine Stücken zu picken und schließlich doch die Hälfte der Pizza zu essen.

Sie sind satt. Sie predigen jetzt weder über Wasser noch Wein. Sie alle starren auf ihre Telefone, tippen, wischen, schmunzeln, der weibliche Hipster sieht sich vermutlich an Fotos satt. Erst verzögert bemerken sie den Kellner, der fragt, was es noch für Wünsche gibt. Der männliche Hipster fordert die Rechnung. Sie kommt. Alle vier beäugen sie, machen was aus und schließlich kramt der männliche Hipster sein Portemonnaie heraus, blättert es auf und lässt den Kellner demonstrativ auf die schwarze Kreditkarte blicken, bevor er centgenau bezahlt. 

Ich hoffe, dass der Kellner gute Kontakte zur Mafia hat und noch ein bisschen Erziehung nachgeholt werden kann... und wie gerne hätte ich die Hipster vorher fotografiert, aber mein Handy ist irgendwo ganz tief unten in der Tasche vergraben. Nie wird einer die Mozzarellawolke sehen. Schade.

Freitag, 2. März 2018

Brennen

Wie Marsellus Wallace' Frau. Nach der Adrenalinspritze. Jede Nacht. Jede Nacht um drei. Immer. Wach gespritzt wie Marsellus Wallace' Frau nach der Adrenalinspritze. Es gibt nur keine Spritze. Wenn, sitzt sie irgendwo unter der Haut. Keine Party, keine Drogen, keine Fussmassage davor.

Ins Bett gelegt als sei der Körper aus Teig. Schwerer und breiter als er ist fühlt er sich an. Irgendwie unkontrollierbar. Wie Watte voll Wasser gesogen. Unbeweglich, zerrig, dumpf. Der kaputte Teig. Die Adrenalinspritze kommt. Herz rast. Keine Ruhe mehr. Eine Stunde lang. Wegdämmern, der Teig wird schwerer.

Jeden Morgen danach kraucht der Teig aus dem Bett, strafft sich, dass bloß keiner was merkt. Funktionieren ist das letzte, was noch funktioniert. Schutt und Asche sonst. Zu viel Arbeit. Zu wenig Geld. Zu viele Sorgen. Zu viele Probleme. Zu wenig Lösungen. Keine Hilfe gesucht. Die falschen Männer zur falschen Zeit, die richtigen Männer zur falschen Zeit. Zu viel Alkohol. Zu wenig Appetit.

Das Brennen der Schläfen. Es kommt plötzlich. Es kommt immer öfter. Es könnte alles verraten. Jetzt gleich, denkt sie dann, jetzt gleich wird bestimmt was explodieren - ich. Die Schläfen brennen so, sie pochen, das Blut, es rauscht im Kopf. Jetzt gleich, wird der Teig explodieren. Nasenbluten. Oder Kotzfontäne. Irgendwas passiert bestimmt gleich, der Körper wird explodieren, denkt sie. Nichts. Das Brennen verschwindet. Kommt und geht.

Das Kalenderblatt sagt, dass die Monate vergehen. Sie weiß es nicht, alles taub, alles betäubt. Bis es nicht mehr geht, sagt die Ärztin. Burnout. Scheiß Lifestyleanmutung, diskutiert sie noch, als wieder die Schläfen zu brennen beginnen. Jahre später hebt die Ärztin wieder den Zeigefinger. Blutarmut und ausgewrungenes B12-Depot sind Folgen vom Raubbau dunkler Zeiten damals, sagt sie. Und dass sie nur Glück hatte, rechtzeitig den anderen Weg genommen zu haben.

Ich kann nicht mehr, wird sie ihrem großen Bruder schreiben. Der wird sie zu sich holen. Und alleine lassen. Irgendwo im Nirgendwo. Das Brennen vergeht im Nichts. In der dritten Nacht schläft sie das erste Mal seit Monaten durch. Am fünften Tag findet sie einen Ratgeber für frisch gebackene Eltern. Ein Baby, denkt sie, behandelt man immer gut. Essen, Schlaf, Fürsorge bekommt es. Sie adoptiert sich selbst. Sie päppelt sich auf. Jahre wird es dauern. 

Samstag, 17. Februar 2018

Freundlichkeit siegt

Schöner Tag. Die Vögel zwitschern schon. Die Sonne schafft es immer wieder durch die Wolkendecke und wärmt. Ich habe in aller Ruhe Tee getrunken. Nachher könnte ich noch eine Runde Yoga machen, ich habe neue Sequenzen für Yin-Yoga gelernt. Erstmal breche ich auf zu einem Spaziergang.

Ich muss eine Straße überqueren. Sie ist gut und weit einsehbar. Als ich an die Ampelanlage komme, stelle ich fest: Ein Auto ist, von rechts kommend, so weit entfernt, dass ich schon lange über die Straße wäre, bevor die Ampel überhaupt umschalten würde. Ein Radfahrer, ebenfalls von rechts kommend, wäre hingegen schon durch, bevor ich überhaupt auf der Gegenseite ankäme. Von links kommt nichts. Es ist kein Kind in Sicht, dessen Erziehung ich torpedieren könnte. Ich bin nicht so stolz drauf, aber ich beschließe bei Rot zu gehen.

Meine Berechnungen stimmen. Das Auto ist nach wie vor noch weit weg. Und der Radfahrer ist schon durch, als ich die Mitte der Fahrbahn erreicht habe. Aber auch der hat Augenwinkel. Und scheint mit meinem Beschluss nicht zufrieden. Er fährt verlangsamt weiter, dreht sich leicht um. "Es ist Rot, du blöde Schnallenfotze", ruft der Mann.

Schnallenfotze. Oha. 

Da ich Komposita sehr schätze, beschließe ich, auch etwas zu entgegnen. Immerhin sollte dieser Ficker begreifen, dass ich, verfluchte Scheiße nochmal, echt im Einklang mit mir selbst bin.

"Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende", rufe ich. Der Mann verlangsamt seine Fahrt immer weiter, dreht sich weiter um, gerät ins Schlenkern und plumpst vom Rad auf den Hosenboden.

Montag, 1. Januar 2018

Lieber Sylvester als Silvester

Ein neues Jahr hat begonnen. Das alte Jahr war gut - jedenfalls in den Belangen, die mich direkt angehen, von der Situation der Welt insgesamt will ich jetzt mal lieber schweigen. Der Abschluss des Jahres war für mich spitzenmäßig! 

Zum wiederholten Male habe ich mir Silvester oder vielmehr das Getue darum am Arsch vorbeigehen lassen. Während andere mal wieder mit Schall und Rauch ins neue Jahr gestartet sind und heute vermutlich obendrein einen kleinen bis großen Kater pflegen, habe ich auf all das Gerede von der Party des Jahres gepfiffen und die Füße hochgelegt. Statt Silvester zu feiern, könnte ich ebenso einen Film mit Sylvester Stallone schauen - knallt auch, macht ebenso keinen Sinn und ist ebenfalls vollkommen überbewertet (Oscarnominierungen? Nicht im Ernst!?).

Nüchtz machen am Silvesterabend? Wird wohl meine same procedure as every year.
Partypartypartyiiiiiieeeeeeh zu Silvester? Lieber schlitze ich mir die Pulsadern mit einem Zahnstocher auf, den ich gerade aus einem Käsehäppchen gepullt habe, das sich am Rande schon nach oben wellt. Kleines Schwarzes? Klar, in Form einer übergroßen schwarzen Jogginghose. Schlacht am Buffet? Selbstgekochtes und der Mann neben mir isst eh nie so viel wie ich, dreimal Nachschlag nehmen ist sowas von geritzt (und dummes Gerede hinsichtlich meiner Figur kann mir getrost gestohlen bleiben*). Tanzen zu Songs von Helene Fischer? Kein Kommentar, blöde Frage. Couch und dann um zehn ins Bett? Aber bitte, jahaaaa!

Seien wir doch mal ehrlich... fasst man den Vorsatz eine Waaaaahnsinnsparty zu feiern, so kann das aufgrund der hohen Erwartungen eigentlich nur in die Hose gehen. Und das tun sich viele Menschen alljährlich an? Dabei gibt es in der Regel 364 andere Tage, um die Party des Jahres zu feiern. Warum sollte es ausgerechnet dieser eine sein? 

Die besten Feiern habe ich spontan erlebt, sie kamen ohne jede Ansage und haben sich so ergeben. Ich habe vollkommen ungeplant mit einem Freund eine Flasche Whisky geleert und bin mit seiner Frau wie wild zu "Schwule Mädchen" von Fettes Brot durch die Bude gehopst. Das war geil. Es war an irgendeinem Tag X, ich weiß es nicht mehr genau (Stichwort Whisky, anfangs war die Flasche noch voll). Ich habe in der Folge den Spruch "Ab drei is ne Party" geprägt. Das war besser als jedes Silvester.

Ich halte auch nichts von Vorsätzen. Jedenfalls nichts von den Klassikern, die jetzt wieder viele - am liebsten mit Bleistift, mindestens mental - auf ihre Listen setzen. Sie fassen Vorsätze wie Abnehmen, mehr oder überhaupt Sport machen, Alkohol und Rauchen sein lassen usw. Im Fernsehen und Radio dudeln schon die Werbeversprechen für all jene, die (alles) auch dieses Jahr mal wieder viel besser machen wollen als letztes - es werden Abnehm-, Raucherentwöhnungs- und Fitnesssteigerungsversprechen gegeben. Kann mir auch alles am Arsch vorbeigehen. 

Frei vom Willen, ein paar Sachen besser zu machen bin ich natürlich auch nicht. Nur will ich nicht permanent meinen Körper, meine Ernährung, meinen Bewegungsdrang, meinen Kontostand oder oder oder optimieren. Etwas verbessern kann man ja immer. Ich könnte zum Beispiel weniger Plastemüll verursachen. Ich könnte weniger Geld für Bücher ausgeben und mehr in die Bibliothek gehen. Ich könnte mehr Bio-Produkte konsumieren. Ich könnte härter daran arbeiten, den Planeten gesünder zu machen. Ich könnte viel.** Meistens fällt mir sowas an irgendeinem anderen der 365 Tage ein und meistens richte ich mich dann danach - wenn ich Bock drauf habe. Wenn nicht, auch egal. Denn im Grunde muss ich einen Scheiß!

In diesem Sinne: Einen guten Start in viele neue Tage!

* Wenn mir nochmal jemand sagt, ich würde immer dünner, dann fresse ich ihn auf.
** Ich könnte es auch lassen.